THE VILLAGE - ein Dorf vor dem Wald 6

Dorfschule und neue Verwandte:

Meine Tante Irmgard heiratete, als ich acht Jahre alt war. Die Hochzeit fand vierzehn Tage vor meinen Sommerferien statt, und meine Eltern trafen eine ungewöhnliche Übereinkunft mit der Schulleitung. Ich sollte diese vierzehn Tage schulfrei bekommen, wenn ich im Gegenzug vierzehn Tage in der Dorfschule von Daarau verbringen würde (ich sage absichtlich „verbringen“, denn von Lernen konnte keine Rede sein). Ich weiß bis heute noch nicht, wie meine Eltern auf so etwas kommen konnten und dass es überhaupt möglich war. Anscheinend gab es damals nicht soviel Bürokratie wie heute.

Und tatsächlich verbrachte ich nach der Hochzeit, die übrigens grandios und ländlich bombastisch mit allem Zeugs war, vierzehn Tage in der Schule des Dorfes, einem schmucklosen zweigeschossigen Bau aus roten Backsteinen. Hier wurden die Kinder unterrichtet, und zwar immer vier Klassen in einem. Die Jüngsten saßen mehr vorne, und die Älteren mehr hinten.
der ernst des lebens...
Die anderen Kinder machten auf mich fast ausnahmslos einen ziemlich blöden Eindruck. Gegen die war ich wirklich superintelligent. Ich konnte fließend von der Tafel lesen, während die anderen sich einen abstammelten, und ich konnte einigermaßen gut schreiben bis auf die Flüchtigkeitsfehler, die wohl meiner Faulheit zuzuschreiben waren. Jedenfalls erlebte ich eine herrliche Zeit, denn ich war endlich einmal die Klügste und die Beste in der Klasse, und das obwohl ich keinen Finger krumm machte. Meine Hausaufgaben erledigte ich so flüchtig und schnell, dass ich es auch hätte sein lassen können. Aber mich zwackte deswegen wohl ein schlechtes Gewissen, denn als die Frau Lehrerin meine Oma besuchte, da verzog ich mich in den Garten, ich hatte Angst, es könnte herauskommen, dass ich nachmittags kaum Hausaufgaben machte.

Das waren die vierzehn Tage in der Dorfschule, aber viel interessanter war der Mann meiner Tante Irmgard. Er hieß Friedhelm und stammte aus einer schlesischen Familie, die am unteren Ende des Unteren Dorfes wohnte. Die Familie war sogar unter den recht toleranten Verhältnissen von Daarau ein bisschen unter Limit. Sie waren eben sehr arm, sie waren Schlesier, sprachen irgendwie komisch und hatten auch gar keine Verwandten im Dorf. Ich schätze mal, sie hatten den gleichen Status wie die Familie meiner Mutter, als sie gen Ende des Krieges hier im Dorf strandete, nur war es dieser schlesischen Familie nicht gelungen, irgendwie aufzusteigen.

Ich mochte meinen neuen Onkel. Er war sehr freundlich zu mir, hatte ein gutmütiges Wesen und lachte gerne und oft. Und auch seine Familie fand ich äußerst faszinierend, denn sein Vater, ein kleiner dünner Mann, hatte überhaupt keine Nase, nur zwei Löcher dort, wo die Nase hätte sein sollen. Er hatte sie im Krieg irgendwie verloren. Zuerst schüchterte mich diese fehlende Nase ziemlich ein, sie zog mich aber auch magisch an, bis ich gar nicht mehr darauf achtete, denn er war einfach toll, dieser kleine Schlesier – genannt Vattel Kosta – mit seinen seltsamen Sprüchen.

Zum Beispiel sagte er oft: „Du LÄRRRGE!“ Ich weiß bis heute nicht, was er damit meinte. „Du LÄRRRGE, du bist een scheenes meedele“, sagte er oft zu mir, und ich fühlte mich natürlich ungemein geschmeichelt, denn eins wusste ich, ich war nicht schön, dafür waren meine Gesichtszüge zu unbedeutend und zu ausdruckslos, gut meine Farben waren schön, das Blonde mit den blauen Augen, aber sonst? Egal... Diese schlesische Familie bestand aus Vattel Kosta, Muttel Kosta, dem ältesten Sohn Hartmut, dem mittleren Sohn Friedhelm, kurz Friedel genannt und dem jüngsten Sohn Volker. Volker war ein wirklich hübscher Kerl. Als ich ihn zum erstenmal sah, war er 17 Jahre alt, aber irgend etwas fehlte an ihm, um mein Interesse nachhaltig wecken zu können. Dennoch war er gewaltig hübsch, und er war ein richtiger Aufreißertyp mit vielen wechselnden Freundinnen. Auch sein ältester Bruder Hartmut war nicht ohne. Auch er sah gut aus mit seinem breiten slawischen Gesicht, und auch er verschmähte das weibliche Geschlecht nicht, er hat übrigens nie geheiratet, und Jahre später wurde er von einem meiner in Nürnberg lebenden Onkel als „Dorfpapagalli“ bezeichnet.

Ende Teil 6
Bolle Lehmann - 1. Jun, 22:35

An so einer Schule Schule muß ja schwer was los gewesen sein. Wieviele Kinder waren das in der großen Klassse?

Iggy - 2. Jun, 06:24

muss ich nachdenken

und mich im geiste wieder in die klasse setzen. ist schon soo lange her.
ich meine, es wäre so an die fünfzig gewesen, war jedenfalls ziemlich voll. aber toll!
antworten
miyelo - 2. Jun, 16:08

Sonderurlaub

Das mit den Sondervereinbarungen war früher definitiv viel einfacher. Ich durfte in den ersten vier Grundschuljahren immer im Februar zusätzlich zwei Wochen Ferien machen, weil das die Zeit war, in der mein Papa Urlaub bekam. Wir fuhren dann immer zum Ski laufen, während meine Klasse ganz normal Unterricht hatte (bin Jahrgang '53).
Herzliche Grüße
Elke

Iggy - 2. Jun, 17:37

hallo elke, ich bin ein ähnlicher jahrgang ;-))

früher gab es wohl weniger bürokratie als heute. und heute würde die wenigsten eltern sonderurlaub für die kids beantragen sondern sie wohl krank melden. ist ja auch viel einfacher.... hast du bemerkt, dass ich die blauen haare ersetzt habe? *g*
liebe grüße von mir an dich
antworten
Luna in flagranti - 2. Jun, 16:25

Ich bin an deiner Geschichte hängen geblieben ... und hänge nun meinen ähnlichen Erinnerungen nach. Na, irgendwann werde ich es wohl auch schaffen, diese zu PC zu bringen! Bis dahin danke für die nette Ablenkung vom Alltag und LG von Luna

Iggy - 2. Jun, 17:39

schön dass du hängengeblieben bist.

ähnliche erinnerungen hast du? musst du unbedingt aufschreiben, dann könnte ich mal vergleichen, wie andere so empfunden haben...
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