THE VILLAGE - ein Dorf vor dem Wald 4

Das Wetter:

Der Winter war zwar schön, aber es ist der Sommer, der meine Erinnerungen an Daarau bestimmt. Der Sommer allgemein, denn ich kann die vielen Sommer nicht mehr voneinander unterscheiden. Ich weiß nur noch, dass es nie lange warm oder gar sonnig war, immer herrschte das typische Seeklima mit den Tiefs, die von Westen her über den Everstein mit seinem kleineren Bruderhügel heranzogen. Dieser Berg, der Eberstein, beflügelte wie kein anderer Berg meine Fantasie. Es gab nämlich eine Ruine auf seinem Gipfel, genauer gesagt waren es nur ein paar riesige Steinquader, die dort wild herumlagen, aber ich fuhr öfter mit dem Fahrrad dort hin, manchmal mit meinem Cousin mütterlicherseits, wenn er auch die Ferien in Daarau verbrachte, und wir versuchten angestrengt, den geheimen Gang zu finden, der unterirdisch zu der anderen Ruine führen sollte, nämlich zu der auf der Homburg, einem Berg auf der anderen Seite des Tales. Die Grafen von Everstein sollen Raubritter gewesen sein, während die von der Homburg angeblich die ’Guten’ waren. Natürlich haben mein Cousin und ich nie den geheimen Gang gefunden. Wenn er jemals existiert hat, dann war er bestimmt lange schon verschüttet.

Diese Tiefs, die in ununterbrochener Folge über das Land zogen, brachten natürlich auch viel Regen mit sich. Ich kann mich an Jahre erinnern, da trug ich immer einen dieser braunen Nylonmäntel, während ich mit meinem riesigen Fahrrad unterwegs war. Himmel, ich kam ja im Sitzen kaum an die Pedalen heran. Ging aber trotzdem. Und dieser braune Nylonmantel, den ich über meinem Röckchen trug, war damals der letzte Schrei der Mode. Nylon war total neu, es galt als das Nonplusultra unter den Stoffen, und jeder Mann trug Nylonhemden, bis sich dann herausstellte, dass diese Hemden zwar absolut bügelfrei waren, dass sie aber nach kurzer Zeit den Schweißgeruch so verstärkten, dass der Gestank kaum auszuhalten war. Gab es damals eigentlich schon Deodorants? Aber die hätten auch nichts gebracht...

Und apropos Röckchen, richtige Hosen trugen Mädchen erst Jahre später. Meine Deutschlehrerin schaute mich an, als wäre ich nicht ganz gescheit, als ich mit meiner ersten richtigen Hose in der Schule aufkreuzte. Es war eine ganz normal geschnittene Hose. Vorher hatte es nur die sogenannten Steg- oder Skihosen gegeben, aber die passten mir nie, sie waren immer zu kurz und zogen sich im Schritt herunter, oder sie waren zu weit, wenn die Länge passen sollte. Die waren grauenhaft. Und sie waren für Jungen und für Mädchen!?!

Ich fuhr im Regen herum und suchte nach irgendeinem Jungen, der auch in Daarau die Ferien verbrachte. Ich hatte ihn zweimal gesehen und war ein bisschen verliebt in ihn. Ich muss damals so an die zwölf gewesen sein. Er war blond und sah ein bisschen aus wie der Typ in einer dieser Western-Serien, die es damals gab, nein, jetzt weiß ich’s, es war dieser blonde Typ, dieser Jim aus Fury. Was gab es damals an Fernsehserien? Natürlich Lassie, ferner RinTinTin, Corky und natürlich Fury. Meine Oma besaß noch keinen Fernseher, aber in der Großstadt hatten wir schon einen. Seltsam, ich stand immer auf blonde Männer wie zum Beispiel auf Jim, bin aber immer an dunkle gekommen. Übrigens habe ich nie rausgekriegt, wo dieser Junge wohnte, und meine Oma wollte ich nicht danach fragen. Obwohl sie es gewusst hätte.
Wenn sich endlich einmal die Sonne durchgesetzt und die letzten Wolken am Himmel vertrieben hatte, dann herrschte übergangslos hektische Betriebsamkeit. Man fuhr mit dem Leiterwagen auf die Felder, um die Getreidebündel, die man vorher zu Haufen geschichtet hatte – eine Kunst übrigens, die mittlerweile wohl ausgestorben ist – schleunigst auf die Wagen zu laden und dann schleunigst die voll beladenen Wagen zur Dreschscheune zu bringen. Es gab zwar schon Mähdrescher, aber die konnte sich keiner der Bauern leisten, auch nicht ausleihweise, und dafür gab es halt die schon elektrifizierte Dreschscheune, die jeder im Dorf benutzen konnte.

Manchmal blieb das Wetter sogar gut und entlud sich nicht gleich in heftigen Gewittern, und das war noch herrlicher. Der Himmel blieb dann strahlend blau, und ich liebte es, auf den steinigen ausgewaschenen Feldwegen entlang zu wandern. Manchmal stand noch ein bisschen Getreide hier und dort, ich weiß noch genau, dass ich den Hafer mit seinen vielen Rispen am liebsten mochte, ich pflückte Kornblumen und Klatschmohn, legte ein bisschen Hafer, ein bisschen Gerste mit langen klebrigen Spelzen, ein bisschen gedrungenen rundlichen Weizen und den etwas schlankeren Roggen dazu und hatte einen prächtigen Strauß, der allerdings nicht lange vorhielt, bis auf das Getreide. Manchmal hörte ich hoch über mir einen jubilierenden Vogelgesang, und ich wusste genau, weil meine Oma es mir gesagt hatte, dass es sich um eine Lerche handelte. Sie sang vorzugsweise in der Mittagsglut und sie schwebte so weit über mir, dass ich erst nach einiger Zeit einen winzigen schwarzen Punkt sehen konnte.

Ende Teil 4
Mauzi - 18. Mai, 21:44

wie schön!

Iggy (Gast) - 18. Mai, 21:53

danke schön mauzi,

ich bin eigentlich schon weg wegen arbeiten morgen.
hatte gerade noch was über sogenannte "blogsluder" geschrieben. könnte aber zu hart sein.
nacht!!!
antworten
miyelo - 19. Mai, 17:43

Kann ich das irgendwo "am Stück" lesen oder ausdrucken? Ich lese längere Texte lieber vom Blatt Papier.
Liebe Grüße
Elke

Iggy - 19. Mai, 18:32

ist natürlich angenehmer, hatte ich aber gar nicht

vorgesehen, aber für dich mach ich natürlich eine ausnahme ;-)), also dort:

http://ingridgrote.de/html/villaged.html

so toll kenn ich mich nicht damit aus, aber ich hoffe, es klappt...
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